BAJER, FRIEDA

 

   

DER WEG ZUR FREIHEIT

Die Durchsuchung

Es war im Februar 1938. Die Familie Schmidt saß am Tisch. Alle waren  schon mit dem Abendessen fertig. Die Mutter stand auf, räumte den Tisch ab, sah auf die Uhr. Sie hatte vor, ins Kino zu gehen. Der Kinoklub befand sich nicht weit vom Haus, Zeit hatte sie, und sie machte ihrem Ehemann diesen Vorschlag. Er aber war müde, musste morgen wegen seiner Arbeit früh aufstehen, deswegen sagte er:
„Geh alleine, ich ruhe mich lieber aus, denn es war heute ein sehr schwerer Tag“.
Maria zog sich an und ging weg.
Der Vater hat sich noch ein bisschen mit den Kindern unterhalten, und sie gingen alle ins Bett.
Sie hatten noch nicht geschlafen, da klopfte plötzlich jemand laut an der Tür, und ins Zimmer kamen Leute in Uniformen und mit Gewehren auf den Schultern.
„Genosse Schmidt“, sagten sie, „wir müssen ihre Wohnung durchsuchen“.
Sie durchsuchten die Wohnung, den Dachboden, den Stall, den Keller und sahen sich im Hof um.
Herr Schmidt wusste, dass man nichts Verbotenes bei ihnen finden konnte, denn in der Familie gab es so etwas nicht.
Als diese Leute mit der Durchsuchung fertig waren, sagten sie zu ihm: “Ziehen Sie sich an und kommen sie mit uns. Nehmen Sie Unterwäsche mit...“ Danach wurde noch einiges genannt, was er mitnehmen sollte.
Als er aber diese Worte hörte, schickte er eines von den Kindern in den Klub, um Mama so schnell wie möglich nach Hause zu holen.
Das wurde gemacht. Auf dem Rückweg aus dem Klub hörte sich die Mutter die eilige, verwirrte Mitteilung ihres Sohnes an, was zu Hause los war. Sie war aufgeregt, kam herein, sah diese Leute, fiel gleich ihrem Ehemann um den Hals und begann zu weinen.
Herr Schmidt versuchte sie zu beruhigen: „Wein doch nicht, Maria, ich bin unschuldig, mir passiert nichts.“
Maria stellte an die Männer einige Fragen, worauf sie antworteten: „Wir stellen hier Fragen!“ Die Fremden sagten streng und kurz: „Kommen Sie, Genosse Schmidt“.
Eilig nahm seine Frau einiges zum Essen, wickelte es in ein Handtuch ein, stopfte es in ein Säckchen und reichte es ihrem Mann. Er legte die Sachen, die er unter dem Arm hielt, auch hinein, umarmte seine Frau, dann alle Kinder nacheinander und sagte: „Ich komme bald wieder zurück, denn ich bin unschuldig. Ich habe nichts Schlechtes getan, weint nicht und wartet auf mich.“
Dann führte man ihn aus dem Haus hinaus. Die Fremden machten so, als hätten sie es eilig, ihre strengen Gesichter zeigten, dass sie keine Fragen beantworten werden. Sie setzten sich in ein schwarzes Auto, in solchen Autos transportierte man gewöhnlich Gefangene, und fuhren weg.
Wie oft musste sich weiterhin Maria an diesen Kinobesuch erinnern. Sie machte sich ständig Vorwürfe, wozu sie diesen Besuch unternommen hat.
„Ach, wäre ich doch an diesem Abend nur zu Hause gewesen“, dachte Maria. Sie wusste, dass man es nicht verhindern konnte, dass auch sie nicht in der Lage gewesen wäre, ihrem Mann zu helfen.
Und trotzdem hatte sie ein unangenehmes Gefühl, ein schlechtes Gewissen, weil sie gerade an diesem Abend diesen Kinobesuch machte.

Spurlos verschwunden

Gleich am nächsten Morgen kochte Maria, versorgte ihre Kinder, nahm einen Teil vom gekochten Essen und ging auf die Suche nach ihrem Mann. Überall, wo sie auch fragte, bekam sie von den Behörden die gleiche Antwort: „Hier ist er nicht. Wir wissen nicht, wo er ist.“ Maria konnte keine Spur finden. Jetzt wusste sie schon nicht mehr, an wen sie sich noch wenden sollte.
Von anderen Frauen hörte sie, dass manche von ihnen ihre Männer an der Eisenbahnstation, die sich einige Kilometer von hier befand, noch mal sahen. Diese Männer brachte man weg, niemand wusste, wohin.
Einem von ihnen war es gelungen, seiner Ehefrau eine Schachtel Streichhölzer aus dem Fenster des Wagens vorsichtig herauszuwerfen.
Als der Zug schon weg war und die meisten Leute sich in Bewegung setzten, versuchte die Frau diese Schachtel unbemerkt aufzuheben, sie suchte diese Schachtel, hob sie auf, ging beiseite, schaute sich um, um sicher zu sein, dass niemand sie beobachtet. Nicht weit von ihr sah sie einige Frauen, die genau wie sie, hier etwas über das Schicksal ihrer Männer erfahren wollten, vor denen aber brauchte sie keine Angst zu haben. Sie öffnete die Schachtel, schaute hinein und fand dort einen kleinen Zettel, auf dem eilig hin gekritzelt war, dass diese Männer jetzt alle Gefangene wären. Sie wüssten selbst noch nicht, wohin man sie bringt, und wie lange sie dort bleiben müssten. Wenn es aber eine Möglichkeit geben würde, würden sie sich später melden.
Die Frau versteckte die Schachtel, nur danach trauten sich die Frauen, etwas näher zu ihr zu kommen, gingen schweigend neben ihr her. Auch schweigend haben die sich gut verstanden. Als sie weit genug und sicher waren, dass niemand lauschen konnte, sagte die Frau, was im Zettel stand. Alle Frauen weinten heimlich, und nur zu Hause konnten sie sich richtig ausweinen.
Auch Maria ging eine Zeitlang zur Eisenbahnstation, aber von ihrem Mann fand sie keine Spur. Nach dem Ehemann wurden auf dieselbe Art und Weise auch ihr ältester Sohn und der Schwiegersohn weggebracht. 
Auf der Suche

Trotz allem suchte Maria nach ihrem Ehemann. „Nur nicht aufgeben“, dachte sie. „Ich muss mich durchsetzen“. Sie war schon überall gewesen. Sie schrieb auch einige Briefe, bekam aber keine Antwort. Dort, wo sie selbst persönlich war, bekam sie immer wieder mündlich die gleiche Antwort: „Wir wissen nicht, wo er ist.“
Dann schrieb sie nach Moskau, an die Staatsanwaltschaft der UdSSR. Von dort bekam sie im Dezember 1940 eine Postkarte, wo mitgeteilt wurde, dass man ihren Brief an die örtliche Staatsanwaltschaft übersendet habe. Von dort hatte sie aber schon früher einige Male mündliche Antworten bekommen, ihnen wäre das Schicksal ihres Mannes unbekannt. Der Kreis hatte sich geschlossen, und jetzt wusste Maria nicht mehr, was sie noch unternehmen sollte, wen sie noch nach dem Schicksal ihres Mannes fragen konnte.
Vorbei waren jetzt schon einige Jahre, die Hoffnung hatte sie aber noch, ihn irgendwo zu finden.

„Volksfeinde“

Als Herr Schmidt weg war und nicht zurückkam, entschloss sich Maria, eine Arbeit zu finden. An jenem Ort, wo ihre Familie lebte und wo sie nachfragte, sagte man ihr überall ab, deswegen wandte sie sich dann an die Verwaltung der Kolchose, die sich in ihrer Nachbarschaft befand, und erkundigte sich dort, ob sie eine Arbeit bekommen könne. Sie wusste, dass es in der Kolchose viel Arbeit gab und dass man dort Leute brauchte, bekam aber überall eine Absage.
Auch ihre Tochter, deren Mann verhaftet war, bekam in der Kolchose keine Arbeit. Die Leute auf der Straße sagten, dass man „Volksfeinde“ verhaftet habe, und dass die Mitglieder ihrer Familien in der Kolchose nichts zu suchen hätten.
Maria wollte es einfach nicht glauben, dass auch ihre Familie zu den „Volksfeinden“ gehörte, aber danach überlegte sie alles noch einmal und gab zu, dass die erfolglose Arbeitsuche mit der Verhaftung der Männer doch eine Verbindung hatte.

Verbannungsort: Sibirien

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1941 wurde die Familie Schmidt wie viele andere Rußlanddeutsche nach Sibirien verschickt. Jetzt musste der zweite Sohn und die Töchter in die Trudarmee, und Maria war mit ihrem jüngsten Sohn, der 13 Jahre alt war, zu zweit geblieben. Hier bekam man Arbeit in der Kolchose. Abends haben sie manchmal über alle, die weg waren, leise gesprochen. Maria hatte immer noch die Hoffnung, dass ihr Ehemann und ihre Kinder irgendwann freigelassen werden.

Ein Teil der Freiheit

Im Jahre 1956 wurden die Russlanddeutschen von der Kommandantur befreit, sie durften aber nicht an die Wolga oder einen anderen Ort, wo sie früher lebten, zurück und auch in keinem Fall durften sie ihre Häuser zurückverlangen. Also, wenn man von Sibirien weg wollte, war das erlaubt, aber man musste in diesem Fall wieder an einen fremden Ort umziehen.
Und die Familie Schmidt zog nach Kasachstan um. Jetzt fragte schon Marias Sohn bei Bekannten nach, ob jemand eine Adresse habe, wo man hinschreiben kann, um die vermissten Verwandten aufzusuchen.
Die Suche nach dem Vater ging weiter und hatte noch lange keinen Erfolg.

Der lange Weg zur Wahrheit

Im Herbst 1968 starb Maria. Über das Schicksal ihres Mannes hatte sie nichts erfahren.
In den 80er Jahren reisten manche Russlanddeutsche nach Deutschland aus, um dort ständig zu leben. Auch Marias Sohn hatte nachgefragt, wie man das macht.
Im Antragsformular standen Fragen über die Eltern, über ihr Schicksal. Und die Suche nach dem vermissten Vater begann von neuem.
Nach langem Hin und Her hatten Herr Schmidt und seine Frau, zu dieser Zeit war er bereits verheiratet, eine Adresse gefunden, wohin man schreiben konnte.
Auf dieses Schreiben bekamen sie im Februar 1990 eine Nachricht, dass sein Vater, der beschuldigt wurde, gegen die Sowjetmacht gewirkt zu haben, rehabilitiert sei und dass er (oder im Fall seines Todes seine Familie) einen doppelten Monatslohn an seinem einstigen (unmittelbar vor der Verhaftung) Arbeitsplatz bekommen könne. Weiter teilten sie mit, dass sie über das weitere Schicksal seines Vaters keine Angaben hätten und dass man sich mit dieser Frage an die örtlichen (wo er verhaftet wurde) Behörden wenden solle, dass gegen ihn das Verfahren eingestellt worden sei, weil er kein Verbrechen begangen habe.
Und es gab eine Bescheinigung über die Rehabilitierung des Vaters. In dieser Bescheinigung stand geschrieben:
Schmidt, verhaftet im Februar1938. Im Oktober1969 stellte man fest, dass er unschuldig war, und Schmidt wurde rehabilitiert. Die Staatsanwaltschaft hat keine Angaben über das Schicksal von Genossen Schmidt. Mit dieser Frage können Sie sich an den und den wenden (es wurde eine Behörde angegeben, es gab aber keine Anschrift).

Die bittere Wahrheit

Die Familie Schmidt gab nicht auf, fand die Anschrift dieser Behörde heraus, die im Brief genannt wurde, und schrieb wieder einen Brief, und das mit Erfolg. Im April 1990 bekamen sie eine Antwort. Aus diesem Schreiben erfuhren sie das Schicksal ihres Vaters.
Im Brief stand unter anderem: „... ihm wurde ohne Grund vorgeworfen, er wäre ein Mitglied einer deutschen profaschistischen Organisation gewesen, er hätte Spionagearbeiten durchgeführt, hätte Diversionsakte vorbereitet und gegen die Sowjetmacht gekämpft. Das NKWD und die Staatsanwaltschaft der UdSSR verurteilten ihn im März 1938 zum Tode durch Erschießen.
Das Urteil wurde im April 1938 in der Stadt (weiter stand, in welcher Stadt) vollzogen.
Leider wurde damals nicht angegeben, wo er begraben ist, und im Archiv gibt es darüber keine Angaben.
Eine Sterbeurkunde bekommen Sie im Standesamt...“
Anschließend drückten sie ihr herzliches Beileid wegen des tragischen Todes des Vaters aus.
Der Sohn hatte nachgerechnet und festgestellt, dass sein Vater nicht mal zwei Monate nach der Verhaftung gelebt hatte...
Er erinnerte sich daran, wie oft er und seine Mutter abends über den Vater ganz leise gesprochen und auf ihn gewartet hatten. Wenn der Wind draußen tobte, wenn im Sommer die Wipfel der Bäume in der Taiga mit großer Kraft hin und her gerissen wurden, wenn es draußen regnete und die Regentropfen an den kleinen Fensterscheiben hinab liefen, wenn der Schnee im Winter ihre niedrige Lehmhütte völlig zudeckte, saßen sie still im Dunklen und hörten, ob jetzt nicht der Vater an der Tür oder am Fenster klopft.
Die bittere Wahrheit war aber, dass er zu dieser Zeit schon lange erschossen war.